Mythos Grippeimpfung
"Danach wurde ich erst richtig krank"
Christoph Ruwwe-Glösenkamp
26. November 2025
In meiner pneumologischen Praxis in Zossen höre ich es jeden Herbst: Patienten, die der Influenza-Impfung skeptisch gegenüberstehen. Nicht aus genereller Impfgegnerschaft, sondern aufgrund einer spezifischen, persönlichen Erfahrung oder Erzählung: „Herr Doktor, ich habe mich einmal impfen lassen und danach habe ich die Grippe erst richtig bekommen.“
Dieses Phänomen ist so weit verbreitet, dass es fast jeder schon einmal gehört hat. Als Pneumologe nehme ich diese Sorge sehr ernst. Doch physiologisch und statistisch betrachtet, liegt hier oft ein Missverständnis vor, das wir durch einen Blick auf die Primärdaten aufklären können.
Hier sind die evidenzbasierten Fakten, warum die Grippeimpfung keine Grippe auslöst – und warum Sie sich vielleicht trotzdem danach krank gefühlt haben.
1. Die biologische Unmöglichkeit: Inaktivierte Vakzine
Der wichtigste Punkt zuerst: Die in Deutschland standardmäßig verwendeten Influenza-Vakzine für Erwachsene sind Totimpfstoffe (inaktivierte Impfstoffe). Sie enthalten entweder gespaltene Virusbestandteile (Split-Vakzine) oder gereinigte Oberflächenantigene (Subunit-Vakzine). Es befindet sich kein vermehrungsfähiges Virus in der Spritze.
Es ist biologisch unmöglich, dass ein inaktivierter Impfstoff eine Influenza-Infektion auslöst. Das Virus ist „tot“ und kann nicht in Ihre Zellen eindringen, um sich zu replizieren.
2. Reaktogenität: Ein Zeichen der Immunkompetenz
Wenn Patienten berichten, dass sie sich nach der Impfung „wie gerädert“ fühlen, bilden sie sich das nicht ein. Sie verwechseln jedoch die Reaktogenität der Impfung mit der Krankheit selbst.
Wenn wir impfen, provozieren wir bewusst eine Immunantwort. Ihr Körper erkennt die Antigene (Hämagglutinin und Neuraminidase) und beginnt, Antikörper zu produzieren. Dabei werden Botenstoffe wie Interferone und Interleukine ausgeschüttet. Diese Zytokine sind systemisch wirksam und verursachen klassische „Sickness Behavior“-Symptome:
- Müdigkeit
- Leichte Myalgien (Gliederschmerzen)
- Subfebrile Temperaturen
Dies ist keine Infektion, sondern der Beweis, dass Ihr Immunsystem exakt das tut, was es soll: Es arbeitet. Diese Symptome klingen in der Regel nach 24 bis 48 Stunden ab, im Gegensatz zu einer echten Influenza, die Sie oft für eine Woche oder länger ans Bett fesselt.
3. Der Placebo-Effekt und die „Nocebo“-Falle
Ist dieses Krankheitsgefühl nach der Impfung also garantiert? Überraschenderweise zeigen große, randomisierte, Placebo-kontrollierte Studien (RCTs) – der Goldstandard der medizinischen Forschung – ein anderes Bild.
In einer wegweisenden Studie, veröffentlicht im New England Journal of Medicine bzw. Archives of Internal Medicine, wurden gesunde Erwachsene randomisiert entweder mit einem Influenza-Impfstoff oder einem Placebo (Kochsalzlösung) geimpft. Das Ergebnis war verblüffend: Es gab keinen signifikanten Unterschied bei systemischen Symptomen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Fieber zwischen der Impfgruppe und der Placebo-Gruppe. Der einzige signifikante Unterschied war der „raue Arm“ (lokaler Schmerz an der Einstichstelle) [1, 2].
Das bedeutet: Viele systemische Symptome, die wir der Impfung zuschreiben, sind oft zufällig oder psychologisch verstärkt (Nocebo-Effekt), weil wir unseren Körper nach der Injektion genauer beobachten ("Self-Monitoring").
4. Das statistische Pech: Koinzidenz im Viren-Cocktail
Warum schwören dann so viele Patienten Stein und Bein, dass sie direkt nach der Impfung krank wurden? Die Antwort liegt in der Saisonalität.
Wir impfen gegen Influenza genau dann, wenn die Saison für respiratorische Viren beginnt (Oktober bis Dezember). In dieser Zeit zirkulieren nicht nur Influenzaviren, sondern eine Vielzahl anderer Erreger, gegen die die Grippeimpfung nicht schützt:
- Rhinoviren (klassischer Schnupfen)
- Respiratorisches Synzytial-Virus (RSV)
- Adenoviren
- Parainfluenza-Viren
- Coronaviren (saisonale)
Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich zufällig in der Inkubationszeit eines grippalen Infekts (Common Cold) befinden, während Sie bei mir in der Praxis sitzen, ist statistisch relevant. Sie erhalten die Impfung, und zwei Tage später bricht der Infekt aus, den Sie sich bereits vor der Impfung eingefangen haben. Da das menschliche Gehirn auf Kausalität programmiert ist (post hoc ergo propter hoc), schreiben wir den Infekt der Spritze zu [3].
Fazit für Ihre Gesundheit
Die Angst vor der „Grippe durch die Spritze“ ist verständlich, aber wissenschaftlich unbegründet. Eine echte Influenza ist eine schwere systemische Erkrankung, die das Risiko für bakterielle Superinfektionen, Pneumonien und kardiovaskuläre Ereignisse massiv erhöht.
Das leichte Frösteln oder der schmerzende Arm nach der Impfung sind ein kleiner Preis für den Schutz vor einer Krankheit, die Sie wochenlang aus der Bahn werfen kann.
Kommen Sie gerne in unserer Praxis in Zossen vorbei, wenn Sie Fragen zur aktuellen Saison oder zu Ihrem individuellen Risikoprofil haben.
Referenzen
2. Bridges CB et al. Effectiveness and cost-benefit of influenza vaccination of healthy working adults: A randomized controlled trial. JAMA. 2000;284(13):1655–1663. (Bestätigt die Sicherheit und Verträglichkeit im Vergleich zu Placebo).