Dysfunktionelle Atmung
Eine Patientenbroschüre
Christoph Ruwwe-Glösenkamp
17. Juli 2025
Atmen Sie auf – Ein Leitfaden zum Verständnis und zur Bewältigung von dysfunktioneller Atmung
Einleitung: Wenn die Atmung aus dem Takt gerät
Kennen Sie das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, obwohl alle ärztlichen Untersuchungen unauffällig waren? Leiden Sie unter plötzlicher Atemnot, Enge in der Brust, Schwindel oder Herzrasen, was Sie beunruhigt und verunsichert? Sie sind mit diesen Erfahrungen nicht allein. Viele Menschen durchleben eine lange und frustrierende Suche nach Antworten, wenn ihre Atmung zum Problem wird. Die Beschwerden sind oft beängstigend und können die Lebensqualität stark einschränken.
Die wichtigste Botschaft dieser Broschüre lautet daher gleich zu Beginn: Ihre Symptome sind real und keine Einbildung. Sie leiden nicht an einer gefährlichen organischen Erkrankung von Lunge oder Herz, sondern an einer sogenannten dysfunktionellen Atmung. Dies ist eine funktionelle Störung, was bedeutet, dass Ihre Organe gesund sind, aber die Art und Weise, wie Sie atmen – Ihr Atemmuster – aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und die zweitwichtigste Botschaft ist: Dysfunktionelle Atmung ist zwar sehr unangenehm, aber
nicht lebensbedrohlich und vor allem sehr gut behandelbar.
Viele Betroffene fürchten, an einer schweren Krankheit wie Asthma oder einem Herzinfarkt zu leiden. Diese Angst ist verständlich, denn die Symptome können sich dramatisch anfühlen. Doch gerade diese Angst kann die falsche Atmung weiter verstärken und einen Teufelskreis in Gang setzen. Diese Broschüre soll Ihnen helfen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Sie dient als Ihr persönlicher Wegweiser, um zu verstehen, was in Ihrem Körper geschieht, warum es geschieht und – am allerwichtigsten – was Sie selbst aktiv tun können, um wieder zu einer ruhigen und freien Atmung zurückzufinden. Sie werden lernen, vom verunsicherten Patienten zum kompetenten Experten Ihrer eigenen Atmung zu werden.
Teil 1: Was ist dysfunktionelle Atmung? – Das Rätsel der "Atemnot ohne Befund"
1.1. Eine Störung der Funktion, nicht des Organs
Der Kern des Problems bei einer dysfunktionellen Atmung liegt nicht in einer Schädigung Ihrer Lunge oder Ihrer Atemwege. Diese Organe sind in der Regel vollkommen gesund. Stattdessen handelt es sich um eine Störung der Atemtechnik oder des Atemmusters.
Man kann es sich mit einer Analogie vorstellen: Stellen Sie sich ein technisch einwandfreies Auto vor. Motor, Bremsen und Getriebe sind in perfektem Zustand. Wenn der Fahrer jedoch ständig hektisch Gas gibt, abrupt bremst und unkoordiniert lenkt, wird die Fahrt unangenehm, ruckelig und ineffizient. Das Problem ist nicht das Auto, sondern dessen Ansteuerung. Ganz ähnlich verhält es sich bei der dysfunktionellen Atmung: Die Lunge (der Motor) ist in Ordnung, aber die unbewusste Steuerung der Atmung ist aus dem Takt geraten.
1.2. Das Idealbild: Wie eine gesunde, funktionale Atmung aussieht
Um zu verstehen, was schiefläuft, ist es hilfreich, sich das Ideal einer gesunden, physiologischen Atmung in Ruhe vor Augen zu führen. Diese zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
- Durch die Nase: Die Nasenatmung ist der natürliche und gesündeste Weg. Die Nase filtert, erwärmt und befeuchtet die Luft, bevor sie in die Lunge gelangt.
- Aus dem Bauch: Die Atmung wird hauptsächlich vom Zwerchfell, unserem wichtigsten Atemmuskel, angetrieben. Dies zeigt sich durch eine sanfte Hebung und Senkung der Bauchdecke (Bauchatmung oder Zwerchfellatmung). Der Brustkorb bewegt sich nur minimal mit.8
- Ruhig und rhythmisch: Ein Erwachsener atmet in Ruhe etwa 12 bis 16 Mal pro Minute. Die Ausatmung dauert dabei etwas länger als die Einatmung, typischerweise in einem Verhältnis von etwa 1:1,2 bis 1:1,5.
- Mühelos und unbewusst: Eine gesunde Atmung geschieht ohne Anstrengung und ohne den Einsatz von Hilfsmuskeln im Bereich von Schultern und Nacken.
1.3. Die vielen Gesichter der dysfunktionellen Atmung
"Dysfunktionelle Atmung" ist ein Überbegriff für verschiedene, sich oft überlappende Atemmuster. Vielleicht erkennen Sie sich in einer oder mehreren der folgenden Beschreibungen wieder:
- Die überstürzte Atmung (Hyperventilationssyndrom): Dies ist die bekannteste Form. Sie atmen schneller und/oder tiefer, als Ihr Körper es in diesem Moment benötigt. Dadurch wird zu viel Kohlendioxid (CO2) abgeatmet, was zu einer chemischen Veränderung im Blut führt (respiratorische Alkalose) und Symptome wie Schwindel und Kribbeln auslöst. Man unterscheidet die dramatischeakute Hyperventilation, die oft mit Panikattacken einhergeht, und die sehr subtile, oft übersehene chronische Hyperventilation, bei der man ständig unbemerkt etwas zu viel atmet.1
- Die blockierte Atmung (Vocal Cord Dysfunction – VCD): Hierbei kommt es zu einem paradoxen, krampfartigen Verschließen der Stimmbänder während der Einatmung. Betroffene haben das Gefühl, gegen einen Widerstand im Hals zu atmen, was ein ziehendes Geräusch (inspiratorischer Stridor) verursachen kann. Diese Anfälle sind zwar sehr beängstigend, dauern aber meist nur wenige Minuten und sind nicht gefährlich.4 Auslöser können Stress, saurer Magenrückfluss (Reflux) oder das Einatmen von Reizstoffen sein.
- Die oberflächliche Brustatmung (Thorakales Atemmuster / DATIV): Bei diesem Muster wird fast ausschließlich mit dem Brustkorb geatmet, während die natürliche Bauchatmung fehlt. Die Atemhilfsmuskulatur an Schultern und Nacken ist oft verspannt und überlastet. Dies ist eine sehr ineffiziente Art zu atmen, die schnell zu einem Gefühl von Kurzatmigkeit und "Lufthunger" führt, da die Lunge nicht optimal belüftet wird.
- Der ständige "Lufthunger" (Seufzer-Dyspnoe): Dies beschreibt den quälenden und wiederkehrenden Drang, tief durchatmen, seufzen oder gähnen zu müssen, um das Gefühl zu haben, endlich genug Luft zu bekommen. Die Erleichterung hält jedoch meist nur für einen kurzen Moment an, bevor der Drang von Neuem beginnt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Muster nicht streng voneinander getrennt sind. Eine Person mit einer chronischen Brustatmung kann unter Stress leichter in eine akute Hyperventilation geraten. Jemand mit VCD kann begleitend hyperventilieren. Diese Verflechtungen erklären, warum die Symptome so vielfältig sein können und warum die Therapie auf die Normalisierung des gesamten Atemsystems abzielt.
Teil 2: Symptome verstehen – Was Ihr Körper Ihnen sagen will
2.1. Ein Kaleidoskop an Beschwerden – Mehr als nur Atemnot
Die Folgen eines gestörten Atemmusters sind weitreichend und gehen weit über das Gefühl der Atemnot hinaus. Viele Betroffene leiden unter einer Vielzahl von Symptomen, die auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheinen. Diese Liste soll Ihnen helfen, Ihre Beschwerden als Teil eines zusammenhängenden Krankheitsbildes zu erkennen:
- Direkte Atembeschwerden:
- Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen ("Lufthunger")
- Engegefühl in der Brust oder im Hals
- Unfähigkeit, einen tiefen, befriedigenden Atemzug zu nehmen
- Häufiges Seufzen, Gähnen oder Räuspern
- Zu schnelle oder zu tiefe Atmung (Tachypnoe)
- Habitueller (angewohnheitsmäßiger) Husten
- Körperliche Symptome:
- Schwindel, Benommenheit, Gefühl "neben sich zu stehen"
- Kribbeln oder Taubheitsgefühle, besonders in den Händen, Füßen oder um den Mund (Parästhesien)
- Muskelverspannungen (Nacken, Schultern) bis hin zu Muskelkrämpfen, z.B. die "Pfötchenstellung" der Hände
- Herzklopfen, Herzrasen (Palpitationen) oder das Gefühl von Herzstolpern
- Brustschmerzen oder ein Druckgefühl auf der Brust
- Kalte Hände und Füße
- Unerklärliche Müdigkeit und Erschöpfung
- Sehstörungen (z.B. verschwommenes Sehen)
- Aufstoßen oder ein aufgeblähter Bauch
- Psychische und Emotionale Symptome:
- Innere Unruhe, Nervosität und Anspannung
- Angstgefühle, die bis zu Panikattacken anwachsen können
- Konzentrations- und Gedächtnisprobleme
Die enorme Bandbreite dieser Symptome, insbesondere Brustschmerz und Herzrasen, führt verständlicherweise oft zu der Befürchtung, es könnte sich um einen Herzinfarkt oder eine andere schwere Erkrankung handeln. Wenn dann umfangreiche Untersuchungen wie EKG, Belastungs-EKG oder Röntgenaufnahmen keinen organischen Befund zeigen, führt dies bei vielen zu Frustration und dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Es ist jedoch entscheidend, dieses Ergebnis anders zu interpretieren: Normale Testergebnisse sind kein Zeichen dafür, dass Sie sich Ihre Beschwerden einbilden. Im Gegenteil, sie sind ein
entscheidender diagnostischer Hinweis, der uns auf die richtige Fährte führt – weg von einer strukturellen Erkrankung und hin zu einer funktionellen Störung der Atmung.
2.2. Der Teufelskreis aus Atmung, Körper und Angst
Um die dysfunktionelle Atmung erfolgreich zu behandeln, ist es essenziell, den sich selbst verstärkenden Kreislauf zu verstehen, in dem sich viele Betroffene befinden. Dieser Mechanismus erklärt, warum die Symptome oft so plötzlich und überwältigend auftreten können.
Der Teufelskreis läuft typischerweise wie folgt ab:
Der Auslöser: Ein externer oder interner Reiz tritt auf. Das kann eine stressige Situation, eine Sorge, aber auch nur ein unbewusster Gedanke sein.
Verändertes Atemmuster: Als unbewusste Reaktion auf den Auslöser verändert sich die Atmung. Sie wird schneller, flacher oder verlagert sich in den Brustkorb.
Körperliche Symptome: Dieses falsche Atemmuster führt zu den oben genannten körperlichen Veränderungen. Vor allem der Abfall des CO2-Spiegels im Blut löst Schwindel, Herzrasen und Kribbeln aus.
Katastrophale Fehlinterpretation: Der Verstand bemerkt diese unangenehmen Körpersignale und interpretiert sie als Gefahr. Gedanken wie "Ich bekomme keine Luft mehr!", "Ich ersticke!" oder "Ich habe einen Herzinfarkt!" schießen durch den Kopf.
Angst und Panik: Diese bedrohlichen Gedanken lösen massive Angst oder sogar eine Panikattacke aus. Der Körper schüttet Stresshormone aus.
Verstärkung der Fehl-Atmung: Die Angst und die Stresshormone wirken als massiver Verstärker auf das Atemzentrum. Die Atmung wird noch schneller und unkontrollierter, was die körperlichen Symptome weiter verschlimmert. Der Kreislauf beginnt von vorn, schaukelt sich aber immer weiter hoch.
Das Erkennen dieses Musters ist der erste Schritt zur Heilung. Es zeigt Ihnen, dass nicht eine unsichtbare Krankheit, sondern ein verständlicher, wenn auch fehlgeleiteter, psychophysiologischer Prozess abläuft. Und es gibt Ihnen die Möglichkeit, an mehreren Stellen in diesen Kreislauf einzugreifen.
2.3. Ursachen und Auslöser – Was die Atmung aus dem Takt bringt
Ein dysfunktionales Atemmuster entsteht selten über Nacht. Meist gibt es eine Kombination von Faktoren, die dazu beitragen, dass sich die Atmung verändert und dieses falsche Muster zur Gewohnheit wird.
- Psychische Faktoren: Dies sind die häufigsten Treiber. Anhaltender Stress im Beruf oder Privatleben, ungelöste Konflikte, Angst- und Panikstörungen oder auch zurückliegende traumatische Erlebnisse können das Nervensystem in einen Zustand dauerhafter Anspannung versetzen, was sich direkt auf die Atmung auswirkt.
- Körperliche Faktoren: Auch der Körper kann die Atmung beeinflussen. Chronische Schmerzen, eine schlechte Körperhaltung mit nach vorne gesunkenen Schultern und rundem Rücken engen den Brustkorb ein und behindern die freie Bewegung des Zwerchfells. Krankheiten wie der gastroösophageale Reflux (Sodbrennen) oder eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung mit "Post-Nasal-Drip" können den Kehlkopf reizen und eine Vocal Cord Dysfunction (VCD) begünstigen.
- Angelerntes Verhalten: Manchmal wird ein falsches Atemmuster schlichtweg "erlernt". Nach einer schweren Atemwegsinfektion (z.B. nach COVID-19) kann der Körper in einem ineffizienten "Notfall-Atemmuster" verharren, obwohl die eigentliche Infektion längst abgeheilt ist. Auch bei Patienten mit organischen Lungenerkrankungen wie Asthma oder COPD kann sich zusätzlich eine dysfunktionelle Atmung entwickeln. Die Angst vor dem nächsten Asthmaanfall kann beispielsweise zu einer chronischen Hyperventilation führen, die dann die Symptome der Grunderkrankung imitiert oder verstärkt.
Teil 3: Der Weg zur Diagnose – Wie wir Klarheit schaffen
Die Diagnose einer dysfunktionellen Atmung ist eine sogenannte "Ausschlussdiagnose", was bedeutet, dass zunächst organische Ursachen für Ihre Beschwerden sorgfältig ausgeschlossen werden müssen. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr spezifische Hinweise und Tests, die positiv auf eine funktionelle Störung hindeuten.
3.1. Das ärztliche Gespräch: Ihre Erfahrung zählt
Der wichtigste Baustein der Diagnostik ist das ausführliche Gespräch mit Ihnen. Ihre genaue Beschreibung der Symptome, der Situationen, in denen sie auftreten, und der damit verbundenen Gefühle und Gedanken liefert die entscheidenden Hinweise. Fragen wie "Wann tritt die Atemnot auf?", "Was geht Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?" oder "Was hilft Ihnen, was macht es schlimmer?" sind von zentraler Bedeutung.
3.2. Die Untersuchung: Positive Zeichen für eine dysfunktionelle Atmung
Neben dem Ausschluss anderer Erkrankungen suchen wir gezielt nach positiven Anzeichen, die für eine dysfunktionelle Atmung sprechen:
- Der Atemanhaltetest: Wir bitten Sie, nach einer normalen Ausatmung die Luft so lange wie möglich anzuhalten. Gesunde Menschen schaffen dies in der Regel für 40-60 Sekunden. Patienten mit einer chronischen Hyperventilation haben eine deutlich geringere Toleranz gegenüber ansteigendem CO2 und brechen den Versuch oft schon nach weniger als 20 oder 25 Sekunden ab.
- Die Pulsoxymetrie: Dieses kleine Gerät am Finger misst die Sauerstoffsättigung im Blut. Paradoxerweise kann ein sehr hoher Wert von 99% oder sogar 100% ein Hinweis auf eine Hyperventilation sein. Durch das übermäßige Atmen wird der Sauerstoff zwar maximal ins Blut gepresst, aber das wichtige CO2 wird zu stark abgeatmet. Ein Wert von 97-98% ist hier oft "gesünder".
- Der Nijmegen-Fragebogen: Dies ist ein standardisierter Fragebogen, in dem Sie die Häufigkeit von 16 typischen Symptomen bewerten. Die erreichte Punktzahl gibt einen verlässlichen Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit und den Schweregrad eines Hyperventilationssyndroms.
- Beobachtung des Atemmusters: Durch einfache Beobachtung und das Auflegen der Hände auf Brust und Bauch können wir feststellen, ob Sie vorwiegend mit dem Brustkorb oder mit dem Bauch atmen und ob Sie unbewusst Ihre Atemhilfsmuskulatur am Hals und an den Schultern einsetzen.
3.3. Tabelle: Atemnot – Ein Vergleich zwischen dysfunktioneller Atmung und Asthma
Da die Symptome einer dysfunktionellen Atmung oft mit denen von Asthma verwechselt werden und beide Zustände auch gleichzeitig auftreten können, ist eine klare Unterscheidung wichtig. Diese Tabelle hilft Ihnen, Ihre eigenen Symptome besser einzuordnen.
Merkmal
Dysfunktionelle Atmung
Typischer Asthma-Anfall
Hauptgefühl
"Ich bekomme nicht genug Luft rein", "Lufthunger", Gefühl der Enge im Hals oder hoch in der Brust
"Ich bekomme die Luft nicht wieder raus", Engegefühl tief in der Brust
Atmung
Oft schnell und tief (Hyperventilation) oder seufzend; manchmal blockiert bei der Einatmung (VCD)
Die Ausatmung ist deutlich erschwert und verlängert
Atemgeräusch
Meist leise; bei VCD ein lautes, ziehendes Geräusch (Stridor) bei der Einatmung
Typischerweise ein pfeifendes oder giemendes Geräusch (Wheezing) bei der Ausatmung
Auslöser
Oft psychischer Stress, Angst, aber auch in Ruhe oder ohne erkennbaren Grund 3
Typischerweise Allergene, kalte Luft, Rauch, Infekte oder körperliche Anstrengung
Symptome im Schlaf
Treten charakteristischerweise nicht im Schlaf auf; die Symptome verschwinden, sobald man schläft
Können typischerweise nachts auftreten und den Patienten aus dem Schlaf wecken
Wirkung von Asthma-Notfallspray
Führt zu keiner oder nur sehr geringer Besserung der Symptome
Führt in der Regel zu einer raschen und deutlichen Linderung der Beschwerden
Typische Begleitsymptome
Häufig Kribbeln in Händen/Gesicht, Schwindel, Benommenheit, Muskelkrämpfe
Diese sind seltener; der Fokus liegt auf den direkten Atembeschwerden
Teil 4: Ihr Weg zur Besserung – Werden Sie zum Experten Ihrer eigenen Atmung
Die gute Nachricht ist, dass Sie die Kontrolle über Ihre Atmung zurückgewinnen können. Die Therapie der dysfunktionellen Atmung ist keine passive Behandlung, sondern ein aktiver Lernprozess. Sie werden lernen, die Signale Ihres Körpers neu zu deuten und sich selbst wirksam zu helfen.
4.1. Der wichtigste erste Schritt: Vom Patienten zum Beobachter
Der entscheidende erste Schritt ist eine Veränderung Ihrer inneren Haltung: Werden Sie vom passiven "Patienten", der den Symptomen ausgeliefert ist, zum aktiven und neugierigen "Beobachter" Ihrer selbst.5 Versuchen Sie, Ihr Atemmuster und die aufkommenden Symptome wahrzunehmen, ohne sie sofort zu bewerten oder in Panik zu geraten. Stellen Sie sich Fragen wie: "Aha, interessant, jetzt atme ich wieder schneller. Was ist gerade passiert? Woran habe ich gedacht?". Dieser "Fokus-Shift" schafft eine innere Distanz und ist die Grundlage für jede Veränderung.
4.2. Die Basis-Therapie: Atem-Umschulung ("Breathing Retraining")
Das Herzstück der Behandlung ist die Atemphysiotherapie, deren Ziel eine Umschulung Ihres Atemmusters ist. Die Prinzipien sind einfach und zielen darauf ab, Sie wieder an die natürliche, physiologische Atmung heranzuführen:
Verlangsamen: Die Atemfrequenz bewusst reduzieren.
Verflachen: Das Atemvolumen an den tatsächlichen Bedarf des Körpers anpassen (weniger tief atmen).
Durch die Nase: Die Nasenatmung als Standard wieder etablieren.
In den Bauch: Das Zwerchfell als Hauptatemmuskel reaktivieren.
4.3. Praktische Übungen für den Alltag – Ihr Werkzeugkasten für mehr Ruhe
Hier finden Sie einige grundlegende Übungen, die Sie leicht in Ihren Alltag integrieren können. Regelmäßigkeit ist dabei wichtiger als Perfektion. Schon wenige Minuten täglich können einen großen Unterschied machen.
Übung 1: Die Zwerchfell-/Bauchatmung wiederentdecken – Das Fundament
Diese Übung ist die Basis für alle weiteren Schritte und hilft, das Zwerchfell zu reaktivieren.
Position: Legen Sie sich bequem auf den Rücken, die Knie sind leicht angestellt, die Füße stehen flach auf dem Boden. Ein kleines Kissen unter dem Kopf ist angenehm.
Handposition: Legen Sie eine Hand flach auf Ihren Bauch (in der Nabelgegend) und die andere Hand auf Ihr Brustbein.
Atmung: Schließen Sie die Augen und atmen Sie sanft durch die Nase ein und aus.
Beobachtung: Spüren Sie, welche Hand sich bewegt. Das Ziel ist, dass sich die Hand auf dem Bauch mit jeder Einatmung hebt und mit jeder Ausatmung senkt, während die Hand auf der Brust möglichst ruhig liegen bleibt.
Steuerung: Falls sich vor allem die Brust bewegt, versuchen Sie sanft, den Atem tiefer "nach unten" in den Bauch zu lenken, ohne dabei mehr Kraft aufzuwenden. Seien Sie geduldig, dies kann am Anfang ungewohnt sein.15
Dauer: Führen Sie diese Übung 3-mal täglich für etwa 5 Minuten durch.
Übung 2: Die Lippenbremse – Ihre Notfallbremse bei akuter Atemnot
Die Lippenbremse ist eine äußerst wirksame Technik, um akute Atemnot zu lindern und einen Hyperventilationsanfall zu unterbrechen.
Einatmung: Atmen Sie ruhig durch die Nase ein.
Ausatmung: Spitzen Sie die Lippen locker, als wollten Sie eine Kerze auspusten. Atmen Sie nun langsam und ohne Druck gegen diesen leichten Widerstand der Lippen aus. Die Ausatmung sollte deutlich länger sein als die Einatmung (z.B. 2 Sekunden ein, 4-6 Sekunden aus).
Wirkung: Der leichte Druck beim Ausatmen hält die kleinen Atemwege offen und verhindert, dass sie kollabieren. Die verlangsamte Ausatmung beruhigt zudem das Nervensystem.
Übung 3: Die Kraft der Nasenatmung – Ihr eingebauter Luftfilter
Gewöhnen Sie sich an, wann immer möglich durch die Nase zu atmen. Die Nase ist nicht nur zum Riechen da, sie ist ein hochentwickeltes Organ für die Atmung.
- Filterung, Erwärmung, Befeuchtung: Die Nase reinigt die Luft von Staub und Krankheitserregern, wärmt kalte Luft vor und befeuchtet trockene Luft. Dies schützt Ihre Lunge.
- Stickstoffmonoxid (NO): In den Nasennebenhöhlen wird das Gas Stickstoffmonoxid produziert. Es gelangt bei der Nasenatmung in die Lunge, erweitert dort die Blutgefäße und verbessert so die Sauerstoffaufnahme und die Durchblutung.
- Praxis: Achten Sie im Alltag bewusst darauf, den Mund geschlossen zu halten – beim Gehen, bei der Arbeit am Computer, beim Lesen.
Übung 4: Die "Box-Atmung" (Kastenatmung) – Ruhe in vier Schritten
Diese Technik ist ideal, um Stress abzubauen und das Nervensystem zu beruhigen. Sie wird sogar von Spezialeinheiten wie den Navy SEALs zur Stresskontrolle eingesetzt.36 Stellen Sie sich dabei ein Quadrat (eine Box) vor, dessen vier Seiten Sie mit Ihrem Atem nachfahren.
Einatmen (Seite 1): Atmen Sie langsam für 4 Sekunden durch die Nase ein.
Atem anhalten (Seite 2): Halten Sie die Luft für 4 Sekunden an.
Ausatmen (Seite 3): Atmen Sie langsam für 4 Sekunden durch die Nase oder den Mund aus.37
Atem anhalten (Seite 4): Halten Sie den Atem bei leerer Lunge für 4 Sekunden an, bevor Sie wieder von vorn beginnen.
4.4. Info-Box: Was tun im akuten Anfall von Atemnot oder Panik?
Wenn Sie von akuter Atemnot oder Panik überfallen werden, können diese Schritte sofort helfen:
Stopp & Haltung: Unterbrechen Sie sofort Ihre Tätigkeit. Nehmen Sie eine atemerleichternde Körperhaltung ein, z.B. den Kutschersitz (im Sitzen mit auf den Oberschenkeln aufgestützten Unterarmen) oder die Torwartstellung (im Stehen leicht breitbeinig, Hände auf den Knien abgestützt).
Lippenbremse: Wenden Sie sofort und konsequent die Lippenbremse an. Konzentrieren Sie sich ausschließlich auf die lange, langsame Ausatmung. Die Einatmung kommt von allein.
Beruhigung: Sagen Sie sich innerlich: "Das ist nur ein Anfall. Er ist unangenehm, aber nicht gefährlich. Er wird gleich wieder vorbeigehen.".
Frische Luft: Öffnen Sie ein Fenster. Kühle Luft kann das Gefühl der Atemnot lindern.
Teil 5: Ergänzende und professionelle Therapieoptionen
Die Atem-Umschulung ist die Basis. Je nach Ausprägung und Ursache Ihrer Beschwerden können weitere Therapiebausteine sinnvoll und notwendig sein, um einen nachhaltigen Erfolg zu sichern.
5.1. Wenn die Seele mitatmet: Die Rolle der Psychotherapie
Da Stress, Angst und unbewusste Konflikte oft die Haupttreiber der dysfunktionellen Atmung sind, ist es in vielen Fällen entscheidend, diese Ursachen direkt anzugehen. Wenn Sie merken, dass Angst oder Panikattacken ein zentrales Thema für Sie sind, kann eine Psychotherapie sehr hilfreich sein. Insbesondere die
kognitive Verhaltenstherapie (KVT) hat sich bewährt, um die katastrophisierenden Gedanken im Teufelskreis zu erkennen und zu verändern. Auch achtsamkeitsbasierte Verfahren können helfen, einen gelasseneren Umgang mit Stress und Körpersymptomen zu erlernen.
5.2. Haltung und Bewegung – Den Körper befreien
Atmung und Körperhaltung sind untrennbar miteinander verbunden. Eine nach vorn gebeugte, "kollabierte" Haltung engt den Brustkorb ein und blockiert das Zwerchfell, was eine effiziente Bauchatmung unmöglich macht. Daher sind Haltungstraining und Bewegung wichtige Bestandteile der Therapie.
- Einfache Haltungsübungen: Integrieren Sie kleine Übungen in Ihren Alltag, um den Brustkorb zu öffnen und die Wirbelsäule aufzurichten. Beispiele sind die "Katze-Kuh"-Übung aus dem Yoga, bewusstes Schulterkreisen nach hinten oder das Dehnen der Brustmuskulatur im Türrahmen.
- Allgemeine Bewegung: Regelmäßige körperliche Aktivität wie zügiges Gehen, Schwimmen oder Radfahren verbessert die allgemeine Belastbarkeit und das Vertrauen in den eigenen Körper. Spezielle Lungensportgruppen bieten ein angeleitetes Training, das auf Menschen mit Atembeschwerden zugeschnitten ist.
5.3. Professionelle Begleitung: Ihr Therapeutenteam
Sie müssen diesen Weg nicht allein gehen. Ein Team von Spezialisten kann Sie professionell unterstützen:
- Atemphysiotherapie: Dies ist der Eckpfeiler der Behandlung. Ein spezialisierter Physiotherapeut kann durch manuelle Techniken Verspannungen der Atemmuskulatur lösen, Ihnen ein individuell zugeschnittenes Übungsprogramm erstellen und Sie beim "Breathing Retraining" anleiten.
- Logopädie (Stimm- und Sprachtherapie): Diese Therapieform ist unerlässlich, wenn bei Ihnen eine Vocal Cord Dysfunction (VCD) diagnostiziert wurde. Hier lernen Sie gezielte Techniken, um die paradoxe Bewegung der Stimmbänder zu kontrollieren und die Kehlkopfmuskulatur zu entspannen.
- Biofeedback: Dies ist eine moderne und sehr effektive Methode. Beim sogenannten kapnometrie-assistierten Atemtraining atmen Sie über ein kleines Mundstück, und ein Gerät misst den CO2-Gehalt Ihrer Ausatemluft. Auf einem Bildschirm können Sie live verfolgen, wie sich Ihr CO2-Wert durch Ihre Atmung verändert. Dies macht den unsichtbaren Prozess sichtbar und hilft Ihnen, gezielt zu lernen, wie Sie Ihre Atmung normalisieren können, um einen gesunden CO2-Spiegel zu erreichen und zu halten.
5.4. Behandlung von Begleiterkrankungen
Wenn bei Ihnen spezifische körperliche Auslöser identifiziert wurden, ist deren Behandlung entscheidend für den Therapieerfolg. Dazu gehört zum Beispiel die konsequente medikamentöse Behandlung eines Magenrefluxes durch einen Gastroenterologen oder die Therapie einer chronischen Sinusitis durch einen HNO-Arzt, um die Reizung des Kehlkopfes bei einer VCD zu unterbinden.
Abschluss: Ein Ausblick auf ein befreites Atmen
Wir hoffen, diese Broschüre hat Ihnen geholfen, Ihre Beschwerden besser zu verstehen und Ihnen gezeigt, dass es einen klaren Weg zur Besserung gibt.
Lassen Sie uns die wichtigsten Kernbotschaften noch einmal zusammenfassen:
- Ihre Symptome sind real und haben eine nachvollziehbare, funktionelle Ursache.
- Die Störung ist nicht gefährlich, auch wenn sie sich beängstigend anfühlt.
- Sie haben die Fähigkeit, Ihr Atemmuster aktiv zu verändern und die Kontrolle zurückzugewinnen.
Die Prognose bei einer dysfunktionellen Atmung ist ausgezeichnet. Wenn die Diagnose korrekt gestellt wird und Sie die therapeutischen Strategien, insbesondere die Atemübungen, konsequent und regelmäßig anwenden, ist eine deutliche Linderung der Symptome und eine massive Verbesserung Ihrer Lebensqualität sehr wahrscheinlich.
Dieser Weg erfordert Geduld und Übung. Es wird Tage geben, an denen es besser klappt, und andere, an denen alte Muster zurückkehren. Das ist normal und Teil des Lernprozesses. Seien Sie nachsichtig mit sich selbst und sehen Sie diese Reise als eine Chance, eine gesündere und bewusstere Beziehung zu Ihrem Körper und Ihrer Atmung aufzubauen. Sie sind nicht allein – Ihr ärztliches und therapeutisches Team begleitet und unterstützt Sie auf jedem Schritt dieses Weges. Atmen Sie auf!